Mittwoch, 4. November 2015

Wie Jehovas Zeugen das Denken junger Leute steuern

Aus fachlicher Sicht würde man von Indoktrination sprechen, wenn jungen (und auch älteren) Menschen Ideen "eingepflanzt" werden, die sie bei nüchternen, gesunder Betrachtung nicht glauben würden.

Jehovas Zeugen wird dies häufig unterstellt. Jehovas Zeugen verharmlosen es häufig und verweisen darauf, dass es doch eine persönliche Entscheidung der jungen Menschen sei, ob sie sich dieser Religion anschließen wollen oder nicht. Kritiker verweisen darauf, dass Jehovas Zeugen ähnlich wie Scientology Manipulationsmethoden anwenden würde.

Aber schauen wir uns doch einfach mal ein aktuelles Beispiel an und urteilen wir möglichst neutral. Am 3. November 2015 kam für junge Leute der Artikel "Leben wir in den 'letzten Tagen'?" heraus. Schauen wir ihn uns an, ob dort strategisches Indoktrinationsvorgehen erkennbar ist. Die Zielgruppe dieser nett gemachten Artikel sind meiner Erfahrung nach 10- bis 15-Jährige.

Während Seite 1 relativ harmlos ist und die Ansichten des jungen Menschen abfragt, geht es auf den nächsten Seiten ans Eingemachte. "Was sagt die Bibel dazu" lautet die Überschrift. Doch die erwähnten Bibelpassagen, die zwischen ca. 2600 und 1900 Jahren alt sind drehen sich nicht darum, ob wir in den letzten Tagen leben. Matthäus 24:7 bezieht sich offensichtlich auf die Frage, wann der Tempel zerstört werden wird (vgl. Kapitel 23), während erst ab Vers 29 auf die tatsächlichen Zeichen des bevorstehenden Endes eingegangen wird - so zumindest nach einer logischen Sicht auf Matthäus 24, wenn man das Kapitel im Kontext ließt. Es scheint eine der sinnigsten Interpretation zu sein, dass Jesus die Jahrhunderte nach seinem Tod beschreibt, die voll von Dingen wie der Inquisition, der schwarzen Pest (30 bis 40 % der europäischen Bevölkerung starb) sowie Kriegen wie dem 30-jährigen und dem 100-jährigen Krieg waren. Lukas 21:11, der als nächstes angeführt wird, spielt genau auf diese Dinge an. Dann kommt 2. Timotheus 3:1-5 dran. Ich empfehle das Lesen eines Buches über die Moralvorstellungen der römischen Gesellschaft in den Jahrhunderten vor dem Zerfall des römischen Reiches in West und Ost im 5. Jahrhundert. Heute noch wäre dies alles moralisch verpönt und undenkbar. Jeder dritte in Rom Wohnender war ein Sklave. Herrinnen hatten gut gebaute Männer als Sklaven, Herren junge Frauen/Mädchen als Sklaven. Es ist überliefert, dass diese armen Menschen ihren Herren jederzeit zur sexuellen Verfügung zu stehen hatten. Aber die Zeit heute, das Jahr 2015, sei moralisch so verdorben wie nie zuvor? Die Beispiele aus vergangenen Jahrhunderten könnten endlos ausgeführt würden und würden uns in Ehrfurcht dankbar dafür sein lassen, dass wir heute und nicht zu damaliger Zeit leben.
Doch was sagt der Wachtturm dem jungen Leser? Ich zitiere: "Die Bibel beschreibt, was sich während unserer Zeit abspielen würde." Achja? Hier erkennen wir also bereits eine undifferenzierte Meinungslenkung: Wie selbstverständlich beziehen sich die erwähnten Bibelpassagen auf unsere Zeit und nicht an moralisch verkommenere Zeiten vor uns. Leider muss man sagen, dass das das alte Spiel der Zeugen Jehovas ist: Diese Religion lebt davon, dass wir in den letzten Tagen zu leben haben. Eine alternative Interpretation ist aus ihrer Sicht nicht möglich. Dem jungen Menschen, der nun nicht das Vorwissen hat, wie es moralisch in den Jahrhunderten und Jahrtausenden vor 1914 aussah, stimmt zu. Er denkt an die spanische Grippe, die beiden Weltkriege und den Genozid an den Juden während des Dritten Reiches und schon fühlt er, dass die Bibel doch über unsere Zeit spräche. Eine objektive, ehrliche Religion könnte einem jungen Menschen wunderbare Lektionen lehren, dass diese Bibelpassagen nach Meinung anderer Menschen auf andere Zeiten angewandt werden. Doch das ist nunmal nicht das Ziel: Das Ziel ist die Übernahme der Glaubensansichten der Zeugen Jehovas.

Mit diesen Gedanken konform, lautet die nächste Frage: "Was überzeugt dich davon, dass wir in den letzten Tagen leben?". Dies inkludiert Gedanken wie: "Es ist eindeutigst, dass wir in den letzten Tagen leben. Wer das anders sieht, hat wohl Scheuklappen auf." Allgemein ist zu beobachten, dass auch 1914 und andere strittige Glaubenslehren so vermittelt werden alà: "Also wer das anders sieht, der geht doch nicht mit offenen Augen durch die Welt. Wer nicht erkennt, dass die Welt seit 1914 in den letzten Atemzügen vor dem Gericht Gottes ist, muss einen an der Waffel haben und egomanisch, hedonistisch und Gott hassend sein Leben leben." Das Problem dabei ist nur: Das sind keine rationalen Begründungen. Das ist eine emotionale Ansprache, die zu einem Exklusivitätsdenken führt. Wenn es tatsächlich so eindeutig wäre, dann könnte man doch zumindest nachvollziehbare Begründungen abliefern. Oder zumindest eingestehen, dass es so mancher aus guten Gründen auch anders sieht.

Die letzte Seite soll den jungen Leser trainieren, mit naheliegenden Einwänden umzugehen. Der junge Leser ist, wenn er aus einem Zeugen Jehovas-Elternhaus stammt, bereits der Ansicht, dass etwas Besonderes in diesen Tagen im Gange ist. Keine andere Religion würde sich noch ernsthaft nach der Bibel richten außer den Zeugen Jehovas. Deswegen seien sie ja auch die einzigen, die an eine Trennung von Gesalbten und "anderen Schafen" glauben, die Dreieinigkeit und die Hölle ablehnen, sowie den Gottesnamen Jehovas gebrauchen. In dieser Denkweise befindet sich der junge Mensch. Und nun könnte ihm ein Klassenkamerad sagen: "Aber diese angeblichen Zeichen des Endes gab es doch schon immer", oder; "Vielleicht geht es ja gar nicht um unsere Zeit, sondern um eine zukünftige." Was der junge Mensch hier schon nicht mehr checkt: Der Klassenkamerad hat recht! Deswegen glauben ja auch die meisten Christen, dass diese Zeichen seit Jesu Tod und nicht erst seit 1914 zu sehen sind. Und nicht wenige gehen davon aus, dass die Verbesserung des Lebensstandards und der Lebenserwartung verbunden mit den Errungenschaften von Menschenrechten dafür sprechen könnten, dass die Bibelschreiber einen anderen Zeitabschnitt meinten.

Doch der junge Leser soll antworten, ich zitiere: "Es stimmt, das hat es schon immer gegeben. Trotzdem denke ich, dass unsere Zeit besonders ist, weil...", und: "Diese Meinung vertreten einige. Ich denke da anders, weil..." Nein, junger Leser, du sollst nicht sagen: "Stimmt, letztlich wissen wir nicht, ob wir es richtig sehen, aber nach intensivem Bibelstudium scheint das die logischste Schlussfolgerung zu sein." Du sollst stattdessen eindeutig vertreten: "Ich glaube eindeutig im Recht zu sein und es gibt keine ernstzunehmende alternative Interpretation. Jehovas Zeugen sind die einzigen ernstzunehmenden Bibellehrer."

An diesem Artikel konnte man wirklich sehr schön analysieren, was an den Behauptungen, Jehovas Zeugen würden junge Leute indoktrinieren, dran ist. Es geht nicht um Aufrichtigkeit und objektives Wissen, sondern darum, dass Jehovas Zeugen mit ihren Ansichten eindeutig im Recht seien. Wer ein Beispiel wie dieses zu Ende denkt, der versteht auch, warum für die meisten Zeugen Jehovas die ganze Welt zusammenbricht, falls sie aussteigen. Traurigerweise sind auch Suizide keine Seltenheit. Sie haben es nie gelernt, dass die Welt nicht schwarz-weiß ist und dass man in so vielen Fragen keine klare Antwort hat. Man sollte in jungen Jahren damit umzugehen lernen, statt ein Weltanschauung, die als unumstößlich gilt, eingepumpt zu bekommen. Jesus Christus hat uns klare Lehren gegeben, an die wir uns klammern können und sollten. Und alles was darüber hinausgeht, ist eine Interpretation. Jesus ist weder den Zeugen Jehovas erschienen noch hat er einen Engel zum doktrinellen Beistand gesandt. Auch der heilige Geist hat am Abend der Leitenden Körperschaft nicht auf die Schulter geklopft und gesagt: "Eure Interpretation ist richtig - jede andere Religion liegt leider falsch." Dies geschah nicht. Nachweislich nicht. In der 130-jährigen Geschichte der Zeugen Jehovas wurden selbst Grundlehren immer wieder angepasst und geändert (Russel z.B. betete sogar noch direkt zu Jesus). Es ist somit ein Wahnsinn, zu behaupten, dass sich Jehovas Zeugen sicher sein könnten, Dinge wie die letzten Tage richtig zu verstehen. Aber genau das Gegenteil wird durch Artikel wie dem hier analysierten vermittelt: Es sei klar und eindeutig, dass die Ansicht der Zeugen Jehovas glasklar richtig ist. Als jemand der das auch mal aufrichtig glaubte, macht es mich umso trauriger, wie viel emotionaler Schaden angerichtet wird und wie viele Menschen letztlich in Verbitterung enden und dann oft auch Jesu einfache und doch so positiven Lehren ablehnen.

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Rechtlicher Hinweis: Im Rahmen des deutschen Zitatrechts sind in diesem Artikel Ausschnitte des verlinkten Wachtturm-Artikels zu sehen.

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