Dienstag, 27. August 2013

Amber Scorah: Die gescheiterte China-Missionarin der Zeugen Jehovas



Die Geschichte von Amber Scorah erreicht derzeit im englischsprachigen Raum größer werdende Popularität. Sie wuchs als Kind von kanadischen Zeugen Jehovas auf, lernte in Kanada Mandarin, um chinesischen Immigranten zu predigen. Statt wie üblich hauptsächlich Ablehnung an den Türen zu erfahren, waren die Einwanderer sehr interessiert und viele willigten gerne in das von Jehovas Zeugen angebotene kostenlose persönliche Bibelstudium ein. So viele, dass sie sie alleine gar nicht durchführen konnte. Vor diesem positiven Hintergrund zog sie nach China, um direkt einem Teil der 1,3 Milliarden das, was Jehovas Zeugen als “Botschaft der Bibel” verstehen, näher zu bringen. In China dann wurde sie durch die intensive Konfrontation mit dem Weltbild der Chinesen ernüchtert, stellte ihre eigenen Glaubenslehren infrage und brach schließlich den Missionardienst ab. Sie zog nach New York, wo sie nun ein, wie es Jehovas Zeugen sagen würden, weltliches Leben führt. Ich möchte gerne einige Kommentare zu ihren Erfahrungen und Ansichten von der Warte eines kritischen Zeugen Jehovas aus äußern.

“Ich konnte nicht mehr glauben, dass alle außer uns bei Harmagedon getötet werden, nur weil sie eben in einer anderen Kultur aufgewachsen sind und dadurch nichts mit der Bibel oder Zeugen Jehovas anfangen konnten” (paraphrasiert)

Nun, das wird Jehovas Zeugen ja gern unterstellt, so zu denken. Und ja, viele Zeugen Jehovas denken so über das Gericht Gottes. Auf der anderen Seite muss man sich fragen, wie viel von der Grundessenz der Bibel hängen geblieben sein soll, wenn das eine primäre Glaubensansicht darstellt. Vielleicht bin ich zu optimistisch, wenn ich sage, dass auch ein Zeuge Jehovas eigentlich nicht so extremistisch denkt, wenn er sich intensiv mit der Bibel an sich beschäftigt hat. In der Tat ist es meine Erfahrung, dass viele Zeugen Jehovas, die ich schätze, eine ausgeglichenere Ansicht über das Thema haben, als manche ihrer Schriften vermitteln mögen. Nach außen hin präsentieren sich Zeugen Jehovas ohnehin so, dass sie das Urteil letzten Endes Jehova Gott und Jesus Christus überlassen und es nicht selbst fällen. In Wachtturm-Studienausgaben und Büchern, die für aktive Zeugen Jehovas gedacht sind, dringt allerdings immer wieder durch, dass die Zugehörigkeit zur Organisation und die Unterstützung ebendieser wichtige Kriterien dafür wären, ob man Gottes Wohlgefallen hat. Die geistige Gesundheit hinge von der leitenden Körperschaft der Zeugen Jehovas abhängen, die biblische Belehrung (“geistige Speise”) im Auftrag Gottes vermitteln würde. Diese geistige Speise wäre in keiner anderen Religion zu finden.

“Als ich damals [vor meiner China-Zeit] ausgeschlossen wurde, bereute ich von mir aus vor den Ältesten, ohne dazu gedrängt worden zu sein, da ich ja sonst bei Harmagedon getötet worden wäre, so dachte ich. Ich musste alle beschämenden Details über meine Sünde des vorehelichen Verkehrs erzählen. Wie oft wir es machten, ob wir verhüteten, wer die Verhütungsmittel kaufte, ob wir auch Oralsex hatten.” (paraphrasiert)

Da ist es also, das altbekannte Lieblingsthema. Sogar im Doppelpack. Meines Wissens gab es zwar nie die offizielle Aussage, dass Ausgeschlossene wohl umkommen werden, aber erfahrungsgemäß ist das die allgemeine Ansicht, die mit dieser alle paar Jahre im Wachtturm veröffentlichten Anregung  korreliert: “Liebe ausgeschlossene Zeugen Jehovas, bereut doch und kommt zurück, bevor es zu spät dafür ist”. Was das Thema anbelangt, ob es eine biblische Rechtfertigung für eine derartig extrem erscheinende “Rechtskomiteestruktur” (Kirchengericht bei Jehovas Zeugen) gibt, ob eine im-Endeffekt-Beichtpflicht biblisch ist (so weit entfernt von der katholischen Beichte ist das eigentlich nicht mehr) und ob die Ausschlussgründe bei Jehovas Zeugen wirklich biblisch fundiert sind - darüber ist schon viel geschrieben worden. Auch ich habe hier auf dieser Website eine nüchterne und auf die Bibel gestützte Erörterung des Themas veröffentlicht, die zum Ziel hat, etwas darüber erfahren zu können, wie diese Themen theologisch gesehen werden (können) und wie andere christliche Gruppierungen sie verstehen.

“Heute lebe ich in New York und habe eine berufliche Laufbahn eingeschlagen. Ich habe Sex mit meinem Freund. Ich habe neue Freunde und gehe Abends aufs College.”

Da sie nichts anderes erwähnt, scheint es so, als hätte sie der Religion komplett den Rücken gekehrt.
Interessanterweise gibt es eine Strömung bei Jehovas Zeugen bzw. aus ihnen heraus entstanden, die Jesu Worte über die Pharisäer, dass ihre Proselyten (Jünger) doppelt so schlimm wie sie selbst seien (Mt. 23:15), auf ehemalige Zeugen Jehovas beziehen: Durch die extremistischen Strukturen ihrer vorigen Religion, würden viel zu viele zu ungeheuerlichen Atheisten werden, die sich komplett von jeglichem Christentum trennen, statt die guten Lehren Jesu beizubehalten und sich nur von unnötigem Extremismus zu trennen. Hätte man diesen Menschen von Anfang an nur die Worte Jesu ohne Beiwerk gelehrt, wäre es nach dieser Ansicht nie soweit gekommen. Je extremer der Religionsfanatiker, desto extremer der Atheist, zu dem er einst werden mag.
Wie dem auch sei. Amber hat vermutlich ihren Glauben komplett verloren und wiegt sich dadurch im Recht. Es ist interessant, dass ihr der biblische Glaube nicht genug Halt gegen andere Weltanschauungen gab. Stattdessen wurde ihrem Glauben die Grundlage entzogen. Auch hier kann wieder viel spekuliert werden. Glaubte sie zu gutgläubig? Einfach durch die rosarote Brille und weil sie es seit ihrer Kindheit einfach nicht anders wusste und kannte? Zu wenig bibel- und zu sehr “wachtturmorientiert” (wie man so sagt)? Nur weil man ein Zeuge Jehovas ist oder war, heißt das eben nicht automatisch, dass man auch den lebendigen Gott und seinem Sohn so anhangt, dass einen nichts in der Welt mehr vom Glauben abbringen könnte.


Link zum (bisher einzigen) Artikel von Amber Scorah, in dem sie über ihr bisheriges Leben berichtet: http://www.believermag.com/issues/201302/?read=article_scorah

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